Jetzt will Hubertus Heil mal persönlich nachschauen, was es mit Kanada auf sich hat. Am Montag und Dienstag reist der Bundesarbeitsminister gemeinsam mit seiner Kollegin, Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD), nach Ottawa und Toronto. Dort trifft er sich mit der kanadischen Regierung, besucht Integrationsberatungsstellen, tauscht sich mit Migranten aus und schaut sich Vorzeigeunternehmen an, die viele Fachkräfte aus dem Ausland angestellt haben. Sein Ziel: von Kanada lernen.
Dessen Einwanderungssystem sorgt bei Arbeitsmarktexperten für strahlende Gesichter. Schon 1967 führte das Land ein Punktesystem für die dauerhafte Arbeitsmarktzuwanderung ein. Etwa zur gleichen Zeit setzte Deutschland noch auf sogenannte Gastarbeiter aus dem Ausland und wollte sie am liebsten nach getaner Arbeit direkt wieder ausfliegen. Dass Menschen kamen und nicht Arbeitskräfte, wie es Max Frisch einst sagte, realisierten die Deutschen erst viel später.
Das kanadische System hingegen setzt seit Jahrzehnten darauf, dass viele Einwanderer kommen – und dauerhaft bleiben. Das Punkteprogramm klassifiziert die Fähigkeiten einer ausländischen Arbeitskraft unter anderem nach Ausbildung, Arbeitserfahrung, Sprachkenntnissen in Englisch und Französisch und nach Alter. Wenn man bereits eine Arbeitsstelle in Aussicht hat, bringt das ebenfalls Punkte.
Wer 67 von 100 Punkten erreicht, darf einwandern. Die Familien und die Zukunft werden mitgedacht: Für die Angehörigen gibt es Visa und schon nach drei Jahren ist die Einbürgerung möglich.
Demografischer Wandel ist für Deutschland ein Riesenproblem
Kanada holt mit seinen Zuwanderungsinitiativen jedes Jahr Hunderttausende Arbeitskräfte ins Land. Das muss Deutschland aus Sicht von Ökonomen ebenfalls schaffen: Weil die Babyboomer-Generation in Rente geht, werden Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zufolge bis 2035 sieben Millionen Arbeitskräfte den Arbeitsmarkt verlassen.
Deutschland benötigt laut Ökonomen 400.000 Arbeitskräfte pro Jahr, um die Wirtschaft langfristig am Laufen zu halten. Eine massive Herausforderung, die Heil und seine Kabinettskollegen bewältigen müssen. Doch aktuell lähmen unter anderem langsame Visaverfahren in den Botschaften, hohe Hürden bei den Sprachkenntnissen und der Berufsanerkennung die Fachkräfteeinwanderung in die Bundesrepublik.
Mit der Fachkräftestrategie inklusive der Einführung einer sogenannten Chancenkarte wollen Faeser und Heil mehr Menschen nach Deutschland holen. Auch hier soll es Punkte für verschiedene Fähigkeiten geben. Je nach Punkteanzahl dürfen die Personen einwandern und eine Arbeitsstelle annehmen.
Zudem ist geplant, die Staatsbürgerschaftshürden abzubauen und Migranten ohne dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung den Weg in den Arbeitsmarkt zu eröffnen. Die Reise nach Kanada soll Inspiration für die Umsetzung geben. Die Zeit drängt: Die Wirtschaft mahnt seit Jahren weitere Maßnahmen zur Fachkräfteanwerbung an.
CDU befürchtet mehr Bürokratie
Kritiker befürchten allerdings, dass etwa das Punktesystem für Deutschland nicht passend ist. „Das von der Ampel geplante Punktesystem ist nicht der richtige Weg, denn es setzt voraus, dass Deutschland aus einem breiten Pool von ausländischen Fachkräften frei wählen kann“, sagt die CDU-Arbeitsmarktexpertin Ottilie Klein dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).
„Statt neue Bürokratie zu schaffen, sollte die Ampel beispielsweise Visa- und Anerkennungsverfahren digitalisieren und beschleunigen“, betonte die Christdemokratin. Zudem müsse die Personalausstattung in den Ausländerbehörden erhöht werden sowie der Erwerb deutscher Sprachkenntnisse im Ausland vereinfacht werden. Das seien „die wahren Hürden der Fachkräftezuwanderung“.
Zwar ist sich die Ampelkoalition einig, dass Deutschland mehr Fachkräfte und das Punktesystem benötigt: Noch gibt es allerdings Unstimmigkeiten zwischen SPD und Grünen auf der Seite und der FDP auf der anderen, weil die Liberalen bei den ebenfalls geplanten Einbürgerungserleichterungen Anpassungen fordern.
Auch das Fachkräftegesetz, das unter anderem die Chancenkarte regelt, ist vergangene Woche kurzerhand wieder von der Kabinettsplanung genommen worden. Da gibt es also noch Gesprächsbedarf: Vielleicht kommen Heil und Faeser ja aus Kanada mit neuen Argumenten nach Berlin zurück.